Älter als die Jubiläums-Stadt Falkensee: Geheimnis fürs lange Leben gelüftet?
102-jähriger Falkenseer | |
Karlheinz Sasse |
Mit 102 Jahren hoch hinaus
Stand: Juni 2023
Falkensee feiert den runden 100. Geburtstag. Nur wenige können allerdings die Zeit so nachvollziehen, wie ein Rentner, der noch mehr Jahre in seinem Leben vereint.
Karlheinz Sasse ist mittlerweile 102 Jahre alt und unglaublich fit. „Wenn ich vom Einkaufen komme und in meine Wohnung möchte, muss ich schon ab und zu einen kleinen Stopp einlegen“, sagt er. Dies allerdings würde niemand als Schwäche interpretieren, ganz im Gegenteil, denn schließlich wohnt der gelernte „Kaufmann für Eisenwaren“ hoch oben, in der vierten Etage des Wohnblocks in der Habichtstraße. Die enge, schmale Treppe zu bewältigen ist schon für Jüngere eine Anforderung, doch damals, als Falkensee DDR-Grenzstadt war, hatte
Barrierefreiheit weit weniger Bedeutung als jetzt. Jedenfalls gibt es keinen Aufzug.
Vollkomfort im Wendejahr
Dennoch freuten sich Ehefrau Gerda Sasse und Karlheinz Sasse über die neue Vollkomfort-Wohnung. Ausgerechnet im Nachwendejahr 1990 war Einzug: „Wir waren froh, dass es an diesem Tag nicht geregnet hat“, strahlt der agile Rentner. Viele kennen ihn als Mitarbeiter im Falkenseer Betrieb für Landmaschinenbau.
„Hier war ich zuerst für die Materialversorgung mit tätig.
Später arbeitete ich bis zur Rente im Außendienst“, blickt er zurück.
Bomben über Berlin
„Von hier aus erlebte man, wie in den letzten Kriegsjahren die Bomber über uns einflogen. Wenig später war das Flammeninferno in Berlin zu erkennen. Falkensee wurde kaum als Kriegsziel ins Visier genommen. Es gab hier mit der ‚DEMAG Panzerfabrik‘ bei Albrechtshof nur einen Betrieb, der rüstungsrelevant war“,
erinnert sich Sohn Michael Sasse an die Erzählungen in der Familie.
„Vater war bereits 1939, gleich im Anschluss an den Reichsarbeitsdienst seit 1938, zur Wehrmacht eingezogen worden. Er war in Russland als Nachrichtensoldat in der ‚Heeresgruppe Mitte‘ und konnte über Ostpreußen dem russischen Vormarsch entkommen“, fasst der heute 73-jährige Sohn zusammen.
Russen und Westkino
Karlheinz Sasse ist seit 1922 in Falkensee gemeldet. „Beeindruckend nach dem Krieg war die starke Präsenz der Russen in der Stadt. Es gab natürlich anfänglich viel Mangel. Doch mit Beziehungen ließ sich manches ausgleichen. Wir machten vielfach Ausflüge nach Berlin. Spandau war ja gleich um die Ecke. Da ging es dann mal ins Kino und zurück“, widerspricht Sasse der Vorstellung, dass dies eine
besonders bedrückende Zeit war.
Schon 1947 entdeckte er beim Tanz im Lokal „Vier Jahreszeiten“ seine große Liebe. Das Paar heiratete 1947.
Aufbau und Mauer
Die Zeit der DDR empfand er als „Ära des Aufbaus“. Er sagt heute: „Wir haben dabei mitgeholfen. Dass es 1961 zum Mauerbau kommen sollte, dachte kaum jemand. Als das plötzlich der Fall war, meinten die meisten in der Stadt, dass sich dies nicht lange würde durchhalten lassen“, denkt
Familie Sasse an den nächsten „Meilenstein“ in der Stadtentwicklung zurück. „Am unangenehmsten waren die langen Fahrtwege, die plötzlich entstanden. Es dauerte Stunden, um per Bahn in andere Stadtteile der ‚Hauptstadt der DDR‘ oder Orte in Brandenburg zu gelangen.“
Grenzstadt mit Leerstand
Plötzlich war Falkensee also abgeschnitten, war Grenzstadt, unattraktiv zum Wohnen.
„Viele Westberliner hatten hier Wochenendgrundstücke aus der Zeit vor dem Krieg, die jetzt unbenutzt waren. Obwohl die Eigentümer weiterhin in den Grundbüchern standen, konnten jetzt Ostberliner die Liegenschaften in Besitz nehmen. Der Staat wollte so den Druck etwas herausnehmen. Allerdings ärgerten sich darüber die Falkenseer immer mehr, denn sie fühlten sich
benachteiligt, da die Berliner offensichtlich in den Genuss einer besseren Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Waren kamen, die es hier seltener gab.“
Erstaunen am Übergang
Die Wende erlebte Karlheinz Sasse völlig verblüfft: „Wir
waren damals bereits Rentner. Demzufolge konnten wir problemlos nach Westberlin. Wir trafen uns regelmäßig mit Freunden in Spandau. Dazu benutzten wir den Übergang Staaken. Als meine Frau und ich am 10. November 1989 wieder einmal rüber wollten, glaubten wir, unseren Augen nicht trauen zu können. Es wimmelte dort plötzlich von Menschen. Wir fragten, was los ist, und bekamen die unglaubliche Antwort, dass die Grenze offen ist.“
West-Heuschrecken
Die Familie erlebte, was dies für ihre Heimatstadt an Auswirkungen hatte.
„Falkensee wurde von Westberlinern und Westdeutschen regelrecht überfallen. Es ging um Rückgabe der Grundstücke. Manche waren fair, aber viele wollten ihren beschlagnahmten Besitz teilweise zu unerhörten Preise verkaufen. Das konnten sich natürlich die aktuellen Bewohner nicht leisten.“
Fit dank Paddeln
Die ungewöhnlich gute Gesundheit führen Karlheinz Sasse ebenso wie Sohn
Michael Sasse und dessen Ehefrau Vroni Sasse auf das weitgehend stressarme Leben und die Liebe zur Natur zurück. „Ich habe von den Eltern die Freude am Wassersport geerbt. Daher waren wir fast jedes Wochenende auf einem Campingplatz bei Potsdam. Wir schliefen im Zelt und paddelten mit unserem kleinen Boot durch die Gegend“, verblüfft Karlheinz Sasse. Sein Sohn ergänzt: „Wir haben in jüngeren Jahren mit dem Rauchen aufgehört. Ansonsten essen und trinken wir ganz normal
was schmeckt. Dazu gehört durchaus mal ein Bier, ein Glas Wein oder Sekt.“ Bei Sasse junior kommt noch die Freude an zwei Rädern dazu: „Den Führerschein haben wir beide erst aus beruflichen Gründen nach der Wende
gemacht. Heute sind wir am liebsten mit dem Fahrrad unterwegs. Pro Jahr legen wir
im Durchschnitt mehrere tausend Kilometer zurück“, schwärmt Vroni Sasse.
In dieser Familie gab es also nie den sonst häufigen Ärger, 20 Jahre auf den Trabi warten zu müssen, was die DDR ebenfalls in einem etwas entspannteren Licht erscheinen lässt.